In den achtziger Jahren wurde heftig über Mancur Olsons Buch „The Rise and Decline of Nations“ diskutiert. Seine These war, kurz gesagt, dass es für eine Gesellschaft oft sinnvoller ist, die Produktion kollektiver Güter in einer Organisation zu bündeln, als auf viele, miteinander konkurrierende Organisationen zu verteilen. Der Grund: Jede Organisation, deren Arbeitsergebnisse nicht durch den Markt bewertet wird, entwickelt in erster Linie ein Eigeninteresse an der Erhaltung und Ausweitung ihrer Macht. Daher zeichnen sich Gesellschaften mit einer sehr zersplitterten Organisation der Produktion kollektiver Güter durch Statuskämpfe dieser Organisation untereinander aus, die zu Lasten von Produktion und Wohlstand gehen. Olson beweist seine Theorie empirisch anhand der Organisation von Gewerkschaften, die das „kollektive Gut Arbeitsmarktregulierung“ bereitstellten. Länder mit Einheitsgewerkschaften, wie Schweden und Deutschland, sind demnach wesentlich effizienter als Länder mit vielen kleinen, miteinander konkurrierenden Tarifpartnern.
Heute kann man in jedem IMF- oder OECD-Report über Südeuropa nachlesen, dass ein Kernproblem dieser Länder darin besteht, dass an jeder notwendigen staatlichen Genehmigung nicht eine, sondern eine Vielzahl von Behörden beteiligt ist. Keine Geschäftserweiterung ohne mindestens zwanzig Stempel und lange Wartezeiten. Die Folge einer derartig zersplitterten Regulierung ist, dass hiervon nur die Beschäftigten der Regulierungsbehörden profitieren, während der eigentliche ursprüngliche Regulierungszweck immer mehr in Vergessenheit gerät und Wirtschaft und Gesellschaft stagnieren.
Auch die Bereitstellung von „Finanzmarktstabilität“ ist ein kollektives Gut. Und wie bei der Bereitstellung von allen kollektiven Gütern lässt sich der Erfolg einer damit beauftragten Organisation nur schwer messen. Und folgt man Olson und auch dem gesunden Menschenverstand wäre es geboten, die Finanzmarktregulierung in eine Hand zu legen, so dass eine Behörde den Überblick hat, sinnvolle Abwägungen und eine eindeutige Regulierung und Überwachung ihrer Einhaltung vornehmen kann.
Leider ist der Gesetzgeber seit Ausbruch der Finanzkrise in Europa einen anderen Weg gegangen.
Vor der Finanzkrise hatte der Finanzsektor es in Deutschland nur mit der Bundesbank und der BaFin zu tun. Doch zwischenzeitlich sind zu den bestehenden nationalen Aufsichtsbehörden diverse europäische Aufsichtsbehörden hinzugekommen, so EIOPA für Versicherungen, EBA für Banken, ESMA für Ratingagenturen und Wertpapiere, das European Systemic Risk Board (ESRB) und einige mehr.
Allen diesen neuen Behörden gemein ist, dass Sie ihre eigenen Interessen verfolgen, was sich u.a. darin ausdrückt, dass Sie tunlichst vermeiden, bereits gefundene optimale Regulierungslösungen für einen Sachverhalt von einer anderen Behörde zu übernehmen. So wird für einen völlig identischen Sachverhalt eine neue Definition und Regulierung gesucht, obgleich bereits von einer anderen Institution eine perfekte Lösung gefunden, kodifziert und umgesetzt wurde, die sich zudem bereits in der Praxis hervorragend bewährt hat. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit Ratings bei strukturierten Finanzierungen.
US-Subprime wurde AAA geratet obgleich es Schrott war. Und da die damalige Regulierung bei vielen Investoren hinsichtlich ABS -Anlagen AAA vorschrieb bzw. extrem begünstigte hatten diese vor 2007 auch im blinden Vertrauen auf die Ratingagenturen in die vermeintlich sicheren und lukrativen US-Subprime Anleihen investiert. Das Versagen der Ratingagenturen im US-Subprimemarkt bedurfte somit dringend einer Korrektur des vorliegenden Regulierungswerks.
Bereits 2010 zog man mit der CRD II daraus für Banken die regulatorischen Konsequenzen. Seitdem haben unter der CRD II regulierte Investoren unabhängig vom Rating umfassende eigene Prüfungs- und Sorgfaltspflichten zu beachten, die zunächst in das lokale Aufsichtsrecht der europäischen Staaten, d.h. in Deutschland in die §§ 18 a und b des KWG und mit der Verabschiedung der CRR, die ab 1. Januar 2014 in Kraft tritt, auch in deren Artikel 406 übernommen wurden. Die mögliche Vernachlässigung dieser Pflichten wird mit hohen Sanktionen belegt, die heute in Artikel 407 der CRR enthalten sind. In Artikel 406 und 407 der CRR ist somit haargenau geregelt, dass jeder im Regulierungsbereich der CRR befindliche Investor umfangreiche, genau beschriebene Informationen heranziehen muss, um sich selbst ein Bild von der Werthaltigkeit einer Verbriefungsposition zu machen. Seine Prüfungen muss er dokumentieren und im Falle der Nichterfüllung wird er mit einem zusätzlichen Risikogewicht bis hin zum Kapitalabzug sanktioniert. Zu Artikel 406, 407 der CRR.
Diese Bestimmungen sind sehr sinnvoll und haben sich zwischenzeitlich hervorragend bewährt. Die EZB hat darüber hinaus zudem festgesetzt, dass für alle ABS-Transaktionen, für die Banken im Rahmen der Geldmarktpolitik der EZB-Repofähigkeit anstreben, deren Originatoren nach einem durch die EZB vorgegebenen, umfangreichen Template monatlich bzw. quartalsweise allen Investoren Einzelkreditdaten, sogenannte Loan Level Daten, auf einem öffentlich zugänglichen Data Warehouse, dem European Data Warehouse, bereitstellen müssen. Dies trifft auf fast alle in Europa emittierten ABS-Transaktionen zu und wird seit Anfang 2013 auch bereits praktiziert.
Alles in Butter sollte man also meinen. Nicht ganz.
Da im Zuge der Finanzkrise eine Unzahl neuer Regulierungsbehörden geschaffen wurde, die offensichtlich nicht abgestimmt untereinander arbeiten, ergibt sich, dass es zu redundanten Regulierungen kommt. Nun ist gerade, wenn es um Finanzmarktstabilität geht, Redundanz extrem gefährlich, da sie Eindeutigkeit aus dem System herausnimmt.
Eine dieser Redundanzen ergibt sich aus der Verordnung der Ratingagenturen, die von der ESMA vorbereit im Amtsblatt des Europäischen Parlaments vom 21. Mai 2013 veröffentlicht wurde. Hier regelt der Artikel 8b (Informationen zu strukturierten Finanzinstrumenten) just den gleichen Sachverhalt wie der Artikel 406 der CRR, leider aber unterschiedlich. Legt man beide Regelungen nebeneinander kommt zunächst beim Leser der Eindruck auf, die Verfasser des Artikel 8b kannten die schon bestehende Regelung in der CRR nicht. Dieser Eindruck verstärkt sich um so mehr, wenn man das vorliegende Discussion Paper der ESMA zur CRA 3 Implementierung liest, wo es um die konkrete Ausgestaltung des Artikel 8b der CRA 3 in der Praxis geht. Beim Leser hinterlässt es den Eindruck, dass hier eine Behörde erst am Anfang der Befassung mit einem Gegenstand steht, den sie regulieren will und dabei großzügig über alles was bereits nach der Finanzkrise von anderen Behörden sachkundig erarbeitet und umgesetzt wurde nicht zur Kenntnis nimmt.
„Work expands so as to fill the time available for its completion” lautet ja bekanntlich das bekannte Parkinsonsche Gesetz der Bürokratie. Für die Finanzmarktstabilität ist das Ganze mehr als abträglich. Denn die Folgen dieser Entwicklung wird die zunehmende Schädigung der Intermediationsfunktion der Banken sein. Das Finanzsystem wird somit in eine neue Wertschöpfungskette gedrängt. Da aber in Europa der Aufbau einer derartigen neuen Wertschöpfungskette aufgrund der bisherigen Dominanz von regulierten Banken und Versicherungen im Finanzsystem länger dauern wird, werden die Folgen für die Wirtschaft Europas tiefer und nachhaltiger sein als dies z. B. in den USA der Fall ist, wo schon immer Kapitalmarkt und Pensionskassen dominieren. Zudem wäre auch zu überlegen, ob diese sich bereits abzeichnende neue Wertschöpfungskette des Finanzsektors denn so viel wünschenswerter ist als die bestehende Intermediation über Banken..
Es bleibt nur zu hoffen, dass im Zuge der Bankenunion und der Verlagerung von Aufsichtsfunktionen auf die EZB man den Mut der Bereinigung findet.
Ratingverordnung: Amtsblatt des Europäischen Parlaments vom 21. Mai 2013